Berücksichtigung von Lernereigenschaften
Räumliches Vorstellungsvermögen
Neben dem Vorwissen können auch kognitive Fähigkeiten einen moderierenden Einfluss auf adäquate Gestaltung elektronischer Lernmaterialien besitzen. Unter anderem ist hier das räumliche Vorstellungsvermögen von Personen zu nennen.
Definition: Räumliches Vorstellungsvermögen
Als räumliches Vorstellungsvermögen soll die Fähigkeit verstanden werden, "in der Vorstellung räumlich zu sehen und zu denken, d.h. im Gedächtnis gespeicherte (mehrdimensionale) Vorstellungsbilder zu reproduzieren und mit ihnen mental zu operieren" (Quaiser-Pohl, Lehmann und Schirra, 2001). An dieser Stelle sei in Übereinstimmung mit den Definitionen zahlreicher anderer Autoren (einen Überblick über verschiedene Definitionen liefert beispielsweise McGee, 1979) betont, dass das räumliche Vorstellungsvermögen nicht auf dreidimensionale Objekte beschränkt bleiben soll, sondern auch zweidimensionale Vorstellungsbilder mit einschließt. Begründet werden kann dies unter anderem mit Hilfe experimenteller Befunde und Studien mittels funktioneller Kernspintomographie (fMRT). Diese deuten darauf hin, dass entgegen der landläufigen Meinung auch Denkprozesse mit zweidimensionalen Vorstellungsbildern im Arbeitsgedächtnis räumlicher Natur sind (vgl. z.B. Knauff und Strube, 2002).
Erklärungsansätze
In der Literatur gehen die Meinungen auseinander, wie das räumliche Vorstellungsvermögen die zuvor aufgeführten Gestaltungsempfehlungen moderiert:
- Lernende mit hohem räumlichen Vorstellungsvermögen profitieren verstärkt: So postuliert die CTML von Mayer, dass Lernende mit ausgeprägten räumlichen Kompetenzen von den in der CTML beschriebenen Gestaltungsprinzipien verstärkt profitieren. Die dazugehörige Gestaltungsempfehlung wird in der CTML auch als Prinzip individueller Unterschiede bezeichnet. Begründet wird diese Annahme mit der besseren Möglichkeit für Lernende hoher räumlicher Expertise, Bilder im visuellen Teil des Arbeitsgedächtnisses zu behalten. Dadurch erhöhe sich für diese der Nutzen durch die Präsentation einer zusammenhängenden, multimedialen Botschaft. In diesem Zusammenhang kann auch die "Fähigkeitsverstärkungs-Hypothese" (ability-as-enhancer hypothesis) aufgeführt werden (Huk, 2006). Nach dieser werden Lernende mit hohen räumlichen Fähigkeiten verstärkt von komplexen Visualisierungen wie etwa 3D-Modellen begünstigt.
- Lernende mit niedrigem räumlichen Vorstellungsvermögen profitieren verstärkt: Im Gegensatz zur CTML vermutet das Rahmenmodell für das Lernen mit Multimedia von Najjar (1995, 1997), dass Personen mit hohen kognitiven Fähigkeiten, wie beispielsweise dem räumlichen Vorstellungsvermögen, weniger stark von multimedialen Instruktionsmaterialien profitieren. Diese Lerner würden unabhängig von den Lernmaterialien gute Lernergebnisse erzielen (Najjar, 1997). Auch die "Fähigkeitskompensations-Hypothese" (ability-as-compensator hypothesis) sagt vorher, dass Lerner mit niedrigem räumlichen Vorstellungsvermögen durch graphische Abbildungen wie etwa 3D-Modelle besonders begünstigt werden. Begründet wird dies mit der mangelnden Fähigkeit dieser Personen, mentale Visualisierungen zu konstruieren. Diese fehlende Kompetenz könne mit Hilfe externer Repräsentationen kompensiert werden (Huk, 2006).
Empirische Belege
Auch in empirischer Hinsicht ist die Befundlage zur Moderatorvariablen räumliches Vorstellungsvermögen uneinheitlich (vgl. z.B. Boucheix und Schneider, 2009). So weist beispielsweise Rieber (1990a) darauf hin, dass Personen mit geringen räumlichen Fähigkeiten stärker vom Einsatz einer Animation profitieren als solche mit ausgeprägtem räumlichen Vorstellungsvermögen (vgl. hier). Diese Vermutung wird durch mehrere Studien belegt (Blake, 1977; Cohen, A. C., 2005; Hays, 1996; Hegarty und Sims, 1994; Wardle, 1977). Auch in einer Studie von Winn (1982) zum Thema Dinosaurierentwicklung kann nachgewiesen werden, dass sich der Einfluss der adäquaten Gestaltung der Lernmaterialien auf die Lernleistungen von Schülern nur bei jenen mit hohen verbalen und niedrigen räumlichen Fähigkeiten einstellt. Kritisch anzumerken ist, dass der Einfluss verbaler im Vergleich zu räumlichen Fähigkeiten in dieser Studie deutlich ausgeprägter war. Ein moderierender Einfluss räumlicher ohne Berücksichtigung verbaler Fähigkeiten auf den Einfluss der Gestaltung konnte nicht festgestellt werden. Im Gegensatz zu diesen Befunden belegen mehrere Untersuchungen, dass Lernende mit hohen räumlichen Fähigkeiten in stärkerem Ausmaß oder sogar ausschließlich von (adäquat gestalteten) multimedialen Lernumgebungen profitieren (ChanLin, 2000; Huk, 2006; Mayer und Sims, 1994; Moreno und Mayer, 1999b).
Methodische Vorgehensweise: Median-Split
In Untersuchungen zur Moderatorvariablen räumliches Vorstellungsvermögen führt man typischerweise einen sogenannten Median-Split durch (z.B. Blake, 1977; Mayer und Sims, 1994). In anderen Studien wird die genaue Vorgehensweise der Dichotomisierung (Zweiteilung) nicht näher spezifiziert (z.B. ChanLin, 2000). Bei einem Median-Split wird die Drittvariable räumliches Vorstellungsvermögen am Median dichotomisiert, d.h. der Datensatz wird in zwei, etwa gleichgroße Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe repräsentiert Personen mit einem niedrigen räumlichen Vorstellungsvermögen, die andere Gruppe hingegen Probanden mit einem hohen räumlichen Vorstellungsvermögen. Im Anschluss werden die beiden Gruppen statistisch miteinander verglichen. Bei dieser Datenanalyse können drei mögliche Ergebnisse auftreten. Entweder wirkt sich bei einer der beiden gebildeten Gruppen die Gestaltung von multimedialen Lernumgebungen in stärkerem Maße aus als bei der anderen, bei der sich kein Unterschied zeigt oder es findet sich zwischen den beiden Gruppen keine (bedeutsame) Differenz. Drittens können die beiden Teilgruppen (z.B. Probanden mit niedrigem und hohem räumlichen IQ) entgegengesetzt auf unterschiedliche Gestaltungsformate reagieren. Während zum Beispiel Versuchspersonen mit niedrigem räumlichen IQ von Gestaltung A profitieren, könnten Personen mit hohem räumlichen IQ bessere Leistungen unter der Gestaltungsvariante B erreichen.
Kritik am Median-Split
Die Verwendung eines Median-Splits bei der Datenanalyse wird von Methodikern seit geraumer Zeit heftig kritisiert. Neben einem Verlust an Teststärke ist hier vor allem die Zuordnung von Personen mit einem mittleren Fähigkeitsniveau zu den anderen beiden Gruppen (niedriges und hohes räumliches Vorstellungsvermögen) problematisch. Somit können mögliche Unterschiede zwischen diesen Personen und solchen mit einer niedrigen oder hohen Fähigkeitsausprägung nicht aufgedeckt werden.
Lösung: Keine Dichotomisierung
Zur Beseitigung dieses methodischen Problems könnte man neben einem hohen und niedrigen auch ein mittleres räumliches Vorstellungsvermögen berücksichtigen oder aber überhaupt keine Aufteilung in verschiedene Gruppen vornehmen (Rey, 2008a).